Demokratische Antworten auf die Klimakrise

Demokratische Antworten auf die Klimakrise

S Ist die Demokratie gut gerüstet für den Klimawandel? Diese Frage beschäftigt mich oft. Studien zeigen zwar ein wachsendes Bewusstsein für die Klimakrise, doch von der politischen Agenda scheint sie aktuell fast verschwunden. Das Buch „Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“ von Bernd Ulrich und Hedwig Richter analysiert präzise, warum das so ist.

Demokratie als Konsumversprechen

Demokratie und Revolution – mit diesen zwei gewichtigen Substantiven ließe sich mühelos ein philosophisches Hauptwerk betiteln. Doch die Autor:innen verzichten auf große Worte und revolutionäre Umwälzungen. Sie entlarven Revolutionspathos als überzogene Männerphantasie und zeigen, dass es vielmehr die beharrlichen, kleinteiligen Reformen sind, die die Menschheit vorangebracht haben.

Einen solchen, beharrlichen und wirkungsvollen Reformismus kann gerade die Demokratie leisten – wäre sie nicht, wie Ulrich und Richter es rekonstruieren, stets als Konsumversprechen von stetig wachsendem Wohlstand, Komfort und Luxus verkauft worden. Die Überlegenheit der Demokratie als politisches System mit Konsum- und Wohlstandsgewinnen zu legitimieren, habe die Bürger:innen in Teilen zu „verwöhnten Bürgerkunden“ gemacht, die passiv darauf warten, dass die Politik ihnen wie ein „politischer Pizzadienst“ möglichst zumutungslose Lösungen für die Klimakrise serviert.

Demokratie braucht stattdessen engagierte, mündige Bürger:innen. Für Ulrich und Richter sind es die keineswegs revolutionären bürgerlichen Tugenden wie Disziplin und Maßhalten, mit der wir der Klimakatastrophe politisch wirksam begegnen könnten.

Es geht um „Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“, wie es im Untertitel heißt, der auf Kants Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) anspielt. Kants zentrale These – auf die sich dieses Buch noch deutlicher beziehen könnte – besagt, dass Unterdrückung und Unmündigkeit nicht nur von der Obrigkeit ausgehen, sondern auch mit der „Faulheit und Feigheit“ jedes Einzelne zusammenhängen. Ulrich und Richter sehen diese Trägheit bei beiden: bei Bürger:innen, denen ihr Konsum und Komfort wichtiger erscheinen als unser gemeinsames Überleben, und bei einer Politik, die diesem kindischen Konsumismus nachgibt – getrieben von der Angst, klimapolitische Vorstöße könnten Wähler in die Arme rechter Parteien treiben.

Verantwortung und Selbstbeschränkung

Konkrete politische Maßnahmen oder Vorschläge zur besseren Bürgerbeteiligung liefert das Buch nicht. Hier geht es erstmal um die Analyse unseres gesellschaftlichen Bewusstseins und die Mechanismen der Verdrängung. Das klingt hoch gegriffen, ist aber so pointiert und scharfsinnig formuliert, dass man sich an vielen Stellen des Buches unangenehm wiedererkennt.

Es geht um Haltungen wie man sie in Alltagsgesprächen so oft hört, zum Beispiel die, dass man erst bereit sei weniger Auto zu fahren, wenn der Staat das Bahnnetz komplett saniert hat, oder erst dann ein E-Auto kauft, wenn die Subventionen dafür hoch genug und das Ladenetz dafür perfekt ausgebaut ist. Im Grunde sind solche Argumente verständlich, aber sie sind auch verwöhnt und verantwortungslos und warten auf das Handeln „der Politik“, die gerade in einer Demokratie letztlich wir selbst sind.

Wie waren Kennedys berühmte Worte seiner Antrittsrede 1961: „Ask not what your country can do for you. Ask what you can do for your country.“ Dahin müssen wir kommen. Es klingt aufklärerisch, kantianisch und durchaus akademisch, aber: Wir müssen unsere Privilegien reflektieren und – wie Kant – einfacher und bescheidener leben. Das ist der Vorschlag dieses Buchs, ein mündige und befreiende Entscheidung für weniger.

Die Untermoralisierung des Ökologischen

Im politischen Diskurs erntet moralisches Argumentieren oft angestrengt verzogene Gesichter. Die Autor:innen wundern sich aber über die „Untermoralisierung des Ökologischen“ – warum diskutieren wir andere gesellschaftliche Themen hochmoralisch, während maßloses Fleischessen, Fliegen und Skifahren kaum hinterfragt werden?

Eine große Stärke des Buches ist, dass die Autor:innen dies selbstkritisch in den Blick nehmen und auf die enge Verbindung von sozialen und ökologischen Gerechtigkeitsfragen hinweisen. Gerade die besserverdienende akademisch-gebildete Klasse brüstet sich oft mit klimabewusstem Verhalten, obwohl mit dem Einkommen auch der Konsum und damit der ökologische Fußabdruck steigt. Es ist ja kein Geheimnis, aber doch immer wieder wichtig darauf hinzuweisen, dass gerade Menschen mit niedrigen Einkommen am meisten unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben.

Das Buch liefert auch eine kompakte und pointierte Analyse europäischer und insbesondere deutscher Klima- und Umweltpolitik von Fridays for Future bis zum Heizungsgesetz. Neben aller scharfen Kritik bleibt die zentrale These des Buchs aber auch positiv und hoffnungsvoll: Wir haben alles, um der Klimakrise zu begegnen – genug Wissenschaft, Technologie und stellenweise auch politischen Willen. Das „drängendste Problem der westlichen Gesellschaften“, so schreiben Ulrich und Richter, sind nicht Klimakrise, Artensterben und Wirtschaftskrisen, sondern „Resignation“ und „der schwindende Glaube an die Zukunft“.

Hedwig Richter und Bernd Ulrich, Demokratie und Revolution. Wegen aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit. 2024, Kiepenheuer & Wietsch, 368 Seiten.

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Die Autor:innen im taz Talk

Rezensionsnotizen zum Buch bei perlentaucher

The Coming Wave – Wie KI die Biotechnologie revolutioniert

The Coming Wave – Wie KI die Biotechnologie revolutioniert

Bücher über Künstliche Intelligenz schießen momentan wie Pilze aus dem Boden. Wie bei jedem Tech-Hype bilden sich zwei Lager: die Propheten und die Mahner. Mich hat überrascht, dass ausgerechnet Deepmind-Gründer Mustafa Suleyman den Blick auf die synthetische Biologie lenkt und eine Eindämmung der KI-Welle fordert.

KI in der Biotechnologie

Zwischen den zahlreichen Bedrohungsszenarien, die Suleyman in seinem Buch skizziert, steht eine etwas versteckte, aber wichtige These: KI wird die Biotechnologie revolutionieren. Mit KI-gestützter synthetischer Biologie können wir bald Organe im Labor züchten und Organismen erschaffen, die CO2 binden und Schadstoffe zersetzen, prophezeit Suleyman. Was heute die Präzisionsfertigung von Computerchips ist, wird morgen die Herstellung von Lebewesen sein. Doch genau diese Entwicklung bereitet ihm Sorgen: In den falschen Händen ließe sich die Technologie zur Züchtung biologischer Kampfstoffe missbrauchen.

Seine Warnungen haben Gewicht. Mit Deepmind entwickelte Suleyman „Alpha Fold“, ein KI-Programm, das die Faltungsstrukturen von Proteinen vorhersagt. Diese Entschlüsselung hilft bei der Erforschung von Krankheiten wie Krebs und Alzheimer, die durch fehlerhafte Proteinfaltungen entstehen. Bei dem Gemeinschaftsexperiment CASP 2020 waren Alpha Folds Vorhersagen so präzise, dass Wissenschaftler das Problem der Proteinfaltung für gelöst erklärten.

 

Ruf nach staatlicher Regulierung

Ein Silicon-Valley-Insider ruft nach dem Staat – das überrascht. Statt das neoliberale Mantra zu wiederholen, Regulierung würde Innovation ersticken, macht Suleyman konkrete Vorschläge zur Eindämmung. Seine „Ten steps towards containment“ fordern das Zusammenspiel von Entwicklern, Unternehmern, Zivilgesellschaft und Politik. Den AI Act der EU sieht er als wichtigen Schritt zur KI-Regulierung.

Ausgerechnet beim Klimawandel verfällt Suleyman jedoch in naive Technikgläubigkeit. Seine Lösungsvorschläge – Enzyme gegen Plastik, Tracking gegen Waldsterben, KI zur Entwicklung besserer Batterien – sind eher Einfälle, als durchdachte Argumente. Dennoch: „The Coming Wave“ ist ein wichtiger Weckruf aus dem Silicon Valley und ein Gegengewicht zum rechts-libertären Techno-Utopismus à la Elon Musk.

 

Jenseits von Natur und Technik

„It’s no exaggeration to say the entirety of the human world depends on either living systems or our intelligence.” Diese Bemerkung am Anfang des Buches eröffnet eine neue, fast philosophische Perspektive: KI fordert nicht nur menschliche Intelligenz heraus – sie dringt durch synthetische Biologie in das Leben selbst ein. Technik ist somit nicht mehr Kultur, nicht mehr ein fremdes Gegenüber des Menschen, sondern integraler Bestandteil einer biotechnologischen Gestaltung des Lebens. Damit verwischt sich einmal mehr die Grenze zwischen Natur und Technik.

 

Mustafa Suleyman und Michael Bhaskar, The Coming Wave. Technology, Power and the Twenty-first Century’s Greatest Dilemma, Crown Publishing Group, 2023, 287 Seiten.

Zum Weiterlesen:

Panel-Diskussion mit Mustafa Suleyman

Leseprobe beim freitag

Alexander von Humboldt – Die Erfindung der Natur

Alexander von Humboldt – Die Erfindung der Natur

 Eigentlich wollte ich ein bisschen durch den tropischen Regenwald reisen mit dieser Humboldt-Biographie – eine imaginäre Exit-Strategie gegen den grauen Winter. Ein guter Plan, habe ich mir gedacht, als ich das Buch für nur 5 Euro auf dem Flohmarkt fand.

Forschungsgeist ohne Grenzen

Alexander von Humboldt kennt man als großen Naturforscher, aber mit diesem Buch lernt man ihn auch als Menschen kennen, als einen rastlosen, vielseitig interessierten und ungeheuer schnellen Geist. Allein schon das ist inspirierend genug. Gerade in unserer durchspezialisierten Wissenschaft von heute tut es gut, seinen im besten Sinne „interdisziplinären“ Forschungsgeist zu spüren. Humboldt ist eben nicht nur rationalistischer Aufklärer, sondern auch ein Romantiker. Etwas wissen zu wollen ist für ihn eine Emotion.

Besonders aufschlussreich waren für mich neben den Kapiteln über die berühmte Forschungsreise nach Südamerika die Kapitel über Humboldts Zeit in Weimar und seine Freundschaft mit Goethe, die sein Naturbild grundlegend geprägt haben. Bemerkenswert finde ich auch, wie Wulf den politischen Gehalt von Humboldts berühmter Südamerika-Reise in einem Kapitel über seine Beziehung zu Simón Bolívar und die Bedeutung seiner Schriften für die Unabhängigkeit Lateinamerikas schildert.

 

Eine erzählerische Biografie

Humboldts abenteuerliches Leben und seine Forschungsreisen erzählt Andrea Wulf so lebendig, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Die deutsch-amerikanische Wissenschaftshistorikerin recherchiert nicht nur akribisch, sondern schreibt mit einer Klarheit und Leichtigkeit, die fesselt. Besonders positiv ist, dass sie weder in den Biografie-Kitsch verfällt noch Humboldts Denken zwanghaft in unsere Zeit überträgt.

Dieses Buch liest sich flüssig, unterhaltsam und ich habe nebenbei eine Menge über Humboldt und die Naturwissenschaft seiner Epoche gelernt. Natürlich hätte man sein Leben auch anders erzählen können – kritischer, experimenteller, mit mehr Deutung und Analyse einzelner Denkfiguren. Aber was will man mehr als eine kluge, gut dokumentierte Biographie, die nicht langweilt?

 

Ein Vordenker der Nachhaltigkeit

Nicht nur aus imaginärer Reiselust habe ich dieses Buch gekauft, sondern auch, weil mich Alexander von Humboldts neuer Blick auf die Natur interessiert hat. Und genau darauf legt dieses Buch auch den Fokus auf Humboldts wegweisenden Forschungen zu Ökologie und Klimawandel. Andrea Wulf zeigt, wie Humboldt mit seinem berühmten „Naturgemälde der Anden“ einen völlig neuen Blick auf die Natur entwickelte und als Vordenker der heutigen Ökologie gelten kann. In der tollen philosophischen Reihe „Was bedeutet das alles“ bei Reclam ist gerade ein neuer Band erschienen, der Texte aus Humboldts Werk in den Kontext von Ökologie und Nachhaltigkeit rückt.

Alexander von Humbold - Auf dem Weg zum ökologischen Denken. Drei Texte

Was mir besonders im Gedächtnis bleibt, sind die von Wulf sorgfältig ausgewählten Zitate, die Humboldt als brillanten Denker und begnadeten Erzähler zeigen. Er kommt in diesem Buch viel selbst zu Wort, was auch charakteristisch für ihn ist. Denn sein Bruder Wilhelm beklagte sich nämlich über den „Redefluss“ seines Bruders, der „unerbittlich dahinrauscht“ (Wulf, S. 183). Diese Kraft seines Denkens und Sprechens, die auch in dieser Biographie spürbar ist, macht Lust, noch mehr von Humboldt selbst zu lesen.

Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen von Hainer Kober, 2016, C. Bertelsmann, 560 Seiten.

Alexander von Humboldt, Auf dem Weg zum ökologischen Denken. Drei Texte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ottmar Ette, 2023, Reclam, 126 Seiten.

 

Zum Weiterlesen:

Rezension und Beitrag bei druckfrisch

Rezension von Michael Lange im DLF

Website von Andrea Wulf

 

 

 

Gegen die Natur

Gegen die Natur

Wir haben viele Gründe, gegen die Natur zu sein. Nicht gegen unsere natürliche Umwelt, gegen Wiesen und Felder, Vögel und Eichhörnchen. Problematisch sind die Bilder, die wir uns von der Natur machen, um damit unsere gesellschaftlichen Ordnungen und Normen zu rechtfertigen.

Der Missbrauch von Naturbegriffen

Lange Zeit haben Vergleiche mit der Natur zu Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung geführt. Frauen wurden vom gesellschaftlichen Leben mit dem Argument ausgeschlossen, sie seien schwach, sensibel und „von Natur aus“ für Küche und Kinder gemacht. Queere Menschen hat man als „widernatürlich“ verfolgt, weil ihre Identität und Sexualität angeblich nicht der natürlichen Ordnung entspricht. Und vom Sozialdarwinismus bis in die letzte Stammtischdiskussion kennen wir die falsche These, der Mensch sei, von Natur aus egoistisch und soziales Verhalten eine gut gemeinte moralische Fiktion.

Naturbilder haben eine bisweilen toxische Wirkungen auf die Gesellschaft, aber unsere gesellschaftlich gewachsenen Überzeugungen wirken auch auf die Natur zurück – in fataler Weise, wie wir heute überdeutlich sehen. Dem alten (philosophischen) Denkmodell von Subjekt-Objekt folgend, haben wir unsere Zivilisation als Herrschaft definiert und Natur zur kostenlos ausgebeutete Ressource und zum Objekt unserer Profiinteressen gemacht.

Wissenschaftsgeschichte als Kritik

Wenn wir die ökologische Katastrophe unserer Zeit überleben wollen, brauchen wir nicht noch mehr überhebliche Fortschrittsgeschichten und den Glauben, alle unsere Probleme ließen sich mit noch mehr Technik und noch mehr Herrschaft lösen. Nein, wir müssen unseren Blick auf die Natur und die zugehörigen Bilder in unseren Köpfen verändern.

Mit ihrem Buch Gegen die Natur gibt die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston dazu einen wichtigen Anstoß. Sie kritisiert darin eben die beschriebene Tendenz, moralische oder soziale Normen mit „Natur“ zu rechtfertigen.

Es ist ein kritisches, aber in erster Linie auch ein analytisches Buch, das zu verstehen versucht, warum „die Natur als gigantische Echokammer für die von Menschen gemachten moralischen Ordnungen herhalten“ muss. (Daston 2018, 9)

Die astronomische Uhr im Straßburger Münster

Drei Bedeutungsebenen des Naturbegriffs

Es ist nicht einfach, den Naturbegriff zu fassen und das auch, weil er so viele „Bedeutungsschichten“ umfasst. Daston unterscheidet zur besseren Orientierung drei:

Spezifische Naturen: Das Wort Natur hat seinen Ursprung in der Verschmelzung der Bedeutungen des altgriechischen Physis (etymologische Herkunft vom Verb für: wachsen) mit dem lateinischen Natura (etymologische Herkunft vom Verb für: geboren werden). Die Idee der spezifischen Natur geht also davon aus, dass es „natürlich“ gewachsene Unterschiede und spezifische Eigenheiten gibt, was dann unter anderem zu Rassismus und Ausgrenzung führt. (Vgl. Daston 2018, 15-27)

Lokale Naturen: Natur ist immer auch ein lokaler und territorialer Begriff. Schon in der Antike empfiehlt Hippokrates bei der ärztlichen Behandlung, die regionalen Bedingungen einzubeziehen, unter denen die Menschen leben. Auch die moderne Wissenschaft der Ökologie versteht mit ihren Nischen und Lebensräumen Natur als etwas Lokales. (Vgl. Daston 2018, 27-37)

Allgemeine Naturgesetze: Am stärksten kommt die Beziehung zwischen Natur und Ordnung in der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts zum Tragen. Interessant ist, dass hier oft Technik als Bild für die Natur dient. Die Idee von Gott als Uhrmacher und Schöpfer einer perfekt eingerichteten Ordnung geht auf den englischen Naturphilosophen und Erfinder Robert Boyle (1627-1691) zurück, der von der mechanischen Uhr im Straßburger Münster so begeistert war, dass er sie immer wieder als Analogie verwendete. (Vgl. Daston 2018, 37-49)

Der Mensch als mimetisches Wesen

Lorraine Daston gelingt es auf nur 108 Seiten, die Kultur- und Ideengeschichte unseres Naturverständnisses zu umreißen und damit eine Grundlage für die Kritik am Missbrauch des Naturbegriffs für gesellschaftliche Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung zu schaffen.

Aber woher kommt nun das Bedürfnis, sich auf die Natur zu berufen? Für Daston liegt die Erklärung „in dem unbändigen Drang zum Abbilden, das Unsichtbare sichtbar zu machen, immaterielle Ideen konkret und berührbar werden zu lassen.“ (Daston 2018, 76) Der Mensch brauche Bilder, er sei ein mimetisches, abbildendes Wesen.

Und die Natur bietet uns viele dieser konkreten und für alle erfahrbaren Bilder an, sie „breitet so viele Arten der Ordnung vor uns aus, dass sie eine verlockende Ressource darstellt, um daraus jede einzelne der von Menschen erdachten Ordnungen abzuleiten“, so Daston. (Daston 2018, 80)

Ein Porträt der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston

Naturbilder im Zeichen der Klimakrise?

Gegen die Natur ist kein Buch, das aus feministischer oder sozialkritischer Perspektive eine kritische Gegengeschichte erzählen will, die das Unrecht von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung im Namen der Natur nachzeichnet.

Es handelt sich um eine unaufgeregte, analytische Wissenschaftsgeschichte, die das Bedürfnis des Menschen nach Ordnung und den dazugehörigen Bildern zu verstehen versucht. Ob Daston mit der großen anthropologischen Frage nach dem Menschen als mimetischem Wesen im Hinterkopf nicht doch übersieht, wie problematische Naturbilder historisch genau gewachsen sind, sei dahingestellt.

Für den Nachhaltigkeitsdiskurs ist ein Gewinn, dass Daston hier die Entwicklung unseres Naturverständnisses nachzeichnet und einordnet und das knapp und gut lesbar. Das Buch ist 2018 erschienen, dem großen Jahr von Fridays for Future. Zumindest ein Ausblick zu der Frage, wie sich unsere Naturbilder im Zeichen der Klimakrise verändert haben, wäre wichtig und passend gewesen.

Bruno Latour, der wie Daston aus der Wissenschaftsgeschichte kommt, hat sich diese Frage unter einem noch stärker philosophischen Vorzeichen in Kampf um Gaia und dem Parlament der Dinge gestellt und daraus klare politische Schlüsse gezogen.

Sicher ist: Wir werden die großen Krisen unserer Zeit und die Nachhaltigkeitstransformation nicht angehen können, wenn wir unser Denken nicht verändern. Genau dafür braucht es neben Politik, Technik und allerlei Innovationen auch die analytische und historische Tiefenschärfe von Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.

Lorraine Daston, Gegen die Natur, Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol,

2018, 107 Seiten, Matthes und Seitz, Berlin.

James Bridle – Ways of Being

James Bridle – Ways of Being

Der aktuelle KI-Hype wirft die Frage auf, was unter Intelligenz zu verstehen ist. Der Autor und Künstler James Bridle nimmt dies in seinem neuen Buch Ways of Being zum Anlass, über die Intelligenz von Maschinen, Pflanzen und Tieren nachzudenken. Der unscheinbare Schleimpilz Physarum polycephalum ist ein hervorragender Verkehrsplaner. Wissenschaftler haben seine Fähigkeiten 2010 getestet, die Aufgabe: Das Verkehrsnetz um Tokio zu planen. Haferflocken, die der Pilz besonders mag, waren dabei die Städte der Metropolregion und durch Lichtkegel wurden natürliche Hindernisse wie Berge simuliert. Der hungrige Pilz entwickelte durch sein Wachstum in kürzester Zeit ein sehr effizientes Netzwerk. Für die Infrastrukturplanung kann man also leistungsfähige Computermodelle einsetzen oder eben Schleimpilze.

Anthropozentrismus

Ein solches Kräftemessen zwischen natürlicher und technischer Intelligenz ist mehr als bloße Anekdote. In seinem neuen Buch Ways of Being nutzt der Künstler und Autor James Bridle sie, um deutlich zu machen, wie viel wir von natürlichen Organismen und Netzwerken lernen können, wenn wir ihre Intelligenz ernst nehmen. Gerade angesichts des gegenwärtigen KI-Hypes sind wir ständig mit diesem Kräftemessen zwischen natürlicher und technischer Intelligenz konfrontiert. Etwas ungesehen im Schatten dieser euphorisch geführten Debatte bleibt dabei immer die Frage, was eigentlich unter Intelligenz zu verstehen ist. Bei den meisten Vergleichen dient eben menschliche Intelligenz als unhinterfragter Maßstab für die Bewertung und das führt  oft zur Abwertung anderer Lebewesen. Die große Frage nach dem Intelligenzbegriff ist nicht nur in akademischen Seminarräumen zuhause, sondern für unsere heutige Lage von besonderer Bedeutung. Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung zeigen deutlich, was passiert, wenn man den Menschen und seine Intelligenz zum moralischen Maßstab erhebt.  

Geschichten und Nischen

Jedes Kapitel des Buches erzählt eine Gegengeschichte zu diesem „Anthropozentrismus“. Wir lernen, wie Intelligenztests an Affen nach einem abstrakten, kognitiven Verständnis von Intelligenz modelliert wurden und dabei die umweltspezifischen Anpassungen verschiedener Affenarten übersehen worden sind. Gibbons haben diese Tests nämlich deshalb immer schlecht bestanden, weil sie weniger fingerfertig sind als Schimpansen. Als Baumbewohner ist ihre Intelligenz vertikal ausgerichtet und ihre Hände sind für das Klettern gemacht. Über eine romantische Verklärung der Natur oder eine simple Dichotomie von Natur vs. Technik ist Bridle zum Glück theoretisch hinaus. Er entwirft vielmehr eine hybride Ökologie, die natürliche, technische und menschliche Formen von Intelligenz einbezieht und zueinander in Beziehung setzt. Das macht sein Buch auch für die akademische Forschung im Bereich Medienökologie oder den Science and Technology Studies interessant, deren Vertreter:innen die abstrakten Trennungen von Natur / Mensch / Technik kritisch hinterfragen.  

Eine neue Ökologie der Technik

Vor einigen Jahren hat Bridle mit The New Dark Age ein eher dystopisches Bild der digitalen Welt gezeichnet. In seinem neuen Buch ist die Dunkelheit weitestgehend einer bisweilen etwas esoterisch wirkenden Euphorie und einem Staunen über die Klugheit natürlicher Organismen und Systeme gewichen. Dabei übersieht Bridle an einigen Stellen, dass viele Unterdrückungsmechanismen unserer digitalen Kultur eben durch die Kybernetik vorgedacht worden sind, die sich als transdisziplinäre Kontroll- und Steuerungswissenschaft wie Bridle für die Analogien zwischen Mensch, Natur und Technik begeistern konnte. Der italienische Philosoph Matteo Pasquinelli hat in seinem neuen Buch gezeigt, wie die Kybernetik unser Verständnis von Intelligenz nach dem Maß technischer Systeme geformt hat. Für Pasquinelli ist der Coup der KI aber nicht vorrangig die Nachbildung natürlicher Intelligenz. Die Kybernetik betrachtet Natur bereits mit einem technischen Blick und formt damit eine rationalistische Vorstellung von Intelligenz, die es dann leicht macht, natürliche und (zwischen)menschliche Fähigkeiten und Intelligenzleistungen einem technischen Diktat von Automatisierung und Kontrolle zu unterwerfen.  

Corporate AI

James Bridle sieht die Gefahren von KI eher in der Zurichtung von KI zu kapitalistischen Zwecken. Aus seiner Sicht bräuchte es eine „Ökologie des Technischen“, also eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Umwelten, in denen KI entwickelt wird. Eine sogenannte „Corporate AI“, die nur unternehmerischen Interessen der Herrschaft, Ausbeutung und Kontrolle gehorcht, gilt es für Bridle zu verhindern. Das mag angenehm kritisch klingen, ist aber zu kurz – weil zu undialektisch – gedacht. Denn es gibt ja zahlreiche Unternehmen, die KI ethisch und verantwortungsbewusst nutzen wollen. Was daran gut oder schlecht ist, gilt es kritisch zu unterscheiden, soweit das Mitten in einem technischen Entwicklungsprozess überhaupt möglich ist. Gut ist in jedem Fall, dass sich die EU nicht entschieden hat zu warten. Mit ihrem AI Act hat sie einen wichtigen Schritt getan hat, um eine rechtliche und politische Umgebung für die KI-Entwicklung zu schaffen.   

Essayistik und Optimismus

Trotz dieser an einigen Stellen etwas holzschnittartigen Argumentation kann man von diesem Buch eine Menge lernen: Nicht nur Anekdotisches über die Erinnerungsfähigkeit von Pflanzen oder die vielfältigen Skills des Oktopus. Die Herausforderung, der sich Bridle in jedem Kapitel immer wieder aufs Neue stellt, besteht darin, die Perspektive zu wechseln und von einem anthropozentrischen Blick auf die Welt abzurücken. James Bridle denkt essayistisch, mit dem explorativen Gestus eines technikaffinen Künstlers, der er ist. Manche Naivitäten oder schematische Argumente kann man diesem Buch verzeihen, weil es sich traut, große Fragen zu stellen und dabei trotzdem das Kleine und Konkrete im Blick zu behalten, ganz wie die Ökologie die großen Systeme ebenso im Blick hat, wie die speziellen Nischen. Natürlich kann man Bridles staunende Begeisterung als esoterischen Ausdruck eines digitalitätsmüden Zeitgeistes belächeln. Von seiner Begeisterungsfähigkeit werden wir aber eine gute Portion brauchen, für ein anderes, nachhaltiges Denken, das weit über den Status Quo hinaus in die Zukunft reicht. Ways of Being. Animals, Plants, Machines: The Search for a Planetary Intelligence 2022, Softcover, 384 Seiten, Penguin Random House.
Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

Unsere Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltiger zu machen, ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Der Journalist Ulrich Grober erzählt in seinem Buch facettenreich die Geschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs und rekonstruiert Ideen und Konzepte nachhaltigen Handelns.

Im 17. Jahrhundert erlebt Sachsen ein bemerkenswertes Wirtschaftswunder. Im Erzgebirge hat der Silberbergbau seinen Höhepunkt erreicht. Der wirtschaftliche Boom zieht allerdings ein ökologisches Problem nach sich. Holz wird knapp, weil es an vielen Stellen im Bergbau benötigt wird. Die Bergleute stützen damit die Schächte und Stollen ab und die Köhler machen daraus Holzkohle, um die Hütten zu befeuern, die aus dem Erz das Silber schmelzen. Das Erzgebirge ist damals neben England eine der größten Bergbauregionen in Europa. Das macht den nachwachsenden Rohstoff Holz zur Mangelware. Die Landschaft rund um Freiberg ist durch den Raubbau beinahe entwaldet.

Ressourcenmangel

Um diese Holznot zu bekämpfen, wird Hans Carl von Carlowitz zum neuen Leiter des sächsischen Oberbergamts in Freiberg berufen. Carlowitz ist eine vielseitige Persönlichkeit. Aus seiner Jugend kennt er die Arbeit der Köhler, Schmelzer und Flösser in der Region. Als weltgewandter Adeliger hat er eine große Europareise unternommen und unter anderem in Frankreich und England Ideen für eine Reform der Forstwirtschaft  gesammelt. Aus seinem Wissen und seiner Erfahrung macht der 1713 ein Buch mit dem Titel Sylvicultura oeconomica, was sich als „haushälterischen Waldbau“ (S. 118) übersetzen lässt. Darin skizziert Carlowitz eine Reihe innovativer Ideen: energiesparende Schmelzöfen, eine bessere Wärmedämmung im Hausbau oder Torf als Brennstoffalternative.

Aber Einsparung und Optimierung reichen für Carlowitz nicht aus. Um die Holznot zu lösen, muss man in die Zukunft denken. Die Formel, die er dafür findet, ist einfach und einleuchtend: Man darf nicht mehr Holz schlagen, als in Zukunft auch nachwachsen kann. Carlowitz bezeichnet dies als die „continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung“ der Wälder und erfindet damit einen Begriff, der uns heute umso mehr beschäftigt: Nachhaltigkeit.

Begriffsgeschichten

Begriffe haben eine Geschichte. Sie sind keine neutralen Bezeichnungen für Dinge oder Sachverhalte, sondern sie führen Ideen und Erfahrungen mit sich und sind durch die konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontexte geprägt, aus denen sie stammen. Der Journalist Ulrich Grober macht sich in seinem Buch Die Entdeckung der Nachhaltigkeit daran, in diesem Sinne eine Kulturgeschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs zu erzählen. Nachhaltigkeit, so schreibt er, sei „weder Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock“, sondern, „unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“(S. 13).

Die Geschichte der Nachhaltigkeit erzählt er in Geschichten. Die eingangs erzählte führt in die sächsischen Wäldern, eine weitere nach Umbrien, zu Franz von Assisi und seiner Theologie der Armut und Demut, die den Menschen nicht als Herrscher, sondern als Teil der Schöpfung versteht. In einem anderen Kapitel versammelt Grober Gedanken und Bedeutungen von Nachhaltigkeit rund um das Bild der Blue Marbel. Die Apollo 17 Mission hat 1972 mit diesem Bild für einen radikalen Perspektivwechsel gesorgt. Zum ersten Mal sah man die Erde als blauer einsamer Planet im All und das schärft das Bewusstsein für die Fragilität unseres Planeten. Im gleichen Jahr veröffentlicht der Club of Rome seinen Bericht über die Grenzen des Wachstums. 

Nachhaltigkeit ist auch eine Geschichte der internationalen Konferenzen und Gipfeltreffen. Auch hier richtet Grober den Blick nicht so sehr auf Jahreszahlen und politische Persönlichkeiten, sondern sondiert die gesellschaftlichen Kontexte, aus denen der Brundtland-Bericht oder die Agenda 2030 des Erdgipfels von Rio hervorgegangen sind. Das Buch ist 2010 erschienen, also lange vor dem jüngsten Meilenstein, der Pariser Klimakonferenz 2016, deren Ziele die heutigen Nachhaltigkeitsdebatte prägen.

Eine überwölbende Idee

Dass Ulrich Grober sich neben den „Urtexten“ der Nachhaltigkeit bei Carlowitz, Spinoza, Franz von Assisi und anderen stark auf die 60er und 70er Jahre konzentriert, ist nicht seiner eigenen autobiographischen Nostalgie geschuldet, auch wenn Grober als 68er seine persönlichen Erfahrungen an vielen Stellen einfließen lässt. Der Ökologiehistoriker Joachim Radkau hat die Jahre um 1970 als Beginn einer weltweiten „ökologischen Revolution“ (Radkau 2011, 124-165) bezeichnet, und Grober unterstreicht, dass das kulturelle und politische Klima einer Zeit darüber entscheidet, ob eine Gesellschaft in die Zukunft denken kann:

„Wir haben keine große Erzählung mehr, keine Visionen, die uns beflügeln und antreiben. Dieses Vakuum ist nicht gut. Um die Klimakatastrophe noch im letzten Moment nabzubremsen, sagen uns die Experten, bräuchten wir ein ‘Apollo-Projekt’: eine überwölbende Idee, die in kürzester Zeit große Potenzial aktiviert für etwas, das wir machen, koste es, was es wolle.“ (S. 24)

Dieses Buch ist nicht nur am Schreibtisch entstanden, sondern profitiert sehr davon, dass Grober die Orte des Nachhaltigkeitsdenkens von Freiberg bis nach Umbrien teilweise selbst besucht hat und sie anschaulich beschreibt. So global der Nachhaltigkeitsdiskurs heute ist, an diesen Stellen wird er wieder ganz lokal und auf die Umwelt bezogen, in der sich Nachhaltigkeitsdenken entwickelt hat.

Gedankengänge

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit ist eine Kulturgeschichte im besten Sinne, die nicht linear und fortschrittsgläubig erzählt wird, sondern ihr Thema in den einzelnen Kapitel essayistisch umkreist und dadurch in immer neuen und überraschenden Facetten erscheinen lässt. Die intellektuelle Qualität dieses Buches liegt darin, philosophische Gedankengänge in ihrem historischen Kontext zu verorten und ohne akademische Umständlichkeiten oder einen gezwungenen Aktualitätsbezug konzise auf den Punkt zu bringen. Durch Grobers essayistische Prägnanz sammelt man beim Lesen quasi im Vorübergehen viele wichtige Impulse – von der pantheistischen Naturphilosophie Baruch de Spionzas (1632-1677) bis zur sogenannten Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulies .

Der kulturhistorische und ideengeschichtliche Hintergrund, den dieses Buch so unterhaltsam und gut lesbar rekonstruiert, ist gerade heute wichtig, damit Nachhaltigkeit kein Buzzwort bleibt, sondern darüber hinaus seine politische und gesellschaftliche Wirkung entfalten kann.

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