Die „Blue Marble“ – Wie ein Foto unser Denken veränderte

von | Feb. 20, 2025

Ein einziges Foto veränderte 1972 unseren Blick auf die Erde. Die „Blue Marble“ zeigt die Erde als leuchtend blaue Kugel, einsam im schwarzen All schwebend. Diese neue Perspektive gab der Ökologiebewegung und den Tech-Pionieren im Silicon Valley einen wichtigen Denkanstoß.

Die Entstehung der „Blue Marble“

 Das Foto der Blue Marble war ein Zufallsschnappschuss. Aufgenommen wurde es am 7. Dezember 1972 während der Apollo 17 Mission, der letzten Mondmission der NASA. Es war der perfekte Moment. Die Sonne stand günstig direkt hinter ihrem Raumschiff und beleuchtete die gesamte Erdkugel. Es ist bis heute unklar wer den Auslöser drückte und damit eins der meistpublizierten Fotos der Geschichte machte.

Die „Blue Marble“ ist das berühmteste, aber nicht das erste Foto der Erde aus dem All. Vier Jahre zuvor hatte bereits William Anders während der Apollo 8-Mission das  sogenannte „Earthrise“-Foto aufgenommen. Es zeigt, wie die Erde als kleiner blauer Ball über dem Mondhorizont aufgeht.

Das Earthrise Bild von 1968

Die Ökologiebewegung der 70er Jahre

Der kanadische UN-Sonderbeauftragte Maurice Strong eröffnete am 5. Juni 1972 die erste große internationale Umweltkonferenz in Stockholm mit eindrücklichen Worten, die auf das berühmte „Earthrise“-Foto von 1968 Bezug nahmen:

„Das unser Zeitalter beherrschende Bild ist das Bild der Erde, wie sie über dem Horizont des Mondes aufgeht – als eine schöne, einsame, zerbrechliche Kugel. Sie ist Heimat der gesamten menschlichen Gattung und trägt deren Leben. (…) Was uns dieses Bild mit seiner dramatischen Kraft vermittelt: Alle gemeinsam sind wir von der Gesundheit unserer einen und einzigen Erde abhängig. Unser gemeinsames Interesse, sie zu pflegen und zu bewahren transzendiert alle unsere willkürlichen Trennungen.“

1200 Delegierte aus 113 Nationen versammelten sich in Stockholm, darunter erstmals auch viele Vertreter von NGOs und Umweltaktivisten. Die Konferenz führte zur Gründung des UN-Umweltprogramms (UNEP) und legte den Grundstein für eine globale Umweltpolitik. Der französische Mikrobiologe René Dubois prägte hier den Slogan „Think globally, act locally“ und machte damit klar: Globale Probleme lassen sich nur gemeinsam lösen.

Die 1970er Jahre wurden zum Jahrzehnt einer ökologischen Revolution und die „Blue Marble“ gab dafür einen wichtigen Anstoß. Sie stärkte das Bewusstsein einer globalen Schicksalsgemeinschaft. Die britische Ökonomin Barbara Ward schrieb über das „Spaceship Earth“, der Club of Rome warnte in „Die Grenzen des Wachstums“ vor unkontrolliertem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum angesichts der planetaren Grenzen.

Cover des Whole Earth Catalogues

Whole Earth Catalog – Ökologiebewegung und das Silicon Valley

Im März 1966 wirft sich Stuart Brand einen LSD-Trip ein und steigt auf das Dach eines Hauses. Die neue Perspektive bringt ihn auf eine Idee:

„Ich schaue aus einer Höhe von neunzig Metern und zweihundert Mikrogramm auf San Francisco herab und denken, ich kann von hier aus sehen, dass die Erde gekrümmt ist. Da kam mir der Gedanke, je höher man geht, desto deutlicher kann man die Erde als Rund erkennen.“

Brand glaubt, dass ein Foto der Erde aus dem All das Bewusstsein der Menschheit verändern könnte. Warum das Bild ihn so fasziniert? Vielleicht auch weil er, Jahrgang 1939, ein Kind des Kalten Krieges ist. Die „Blue Marble“ ist für Brand eine Art Gegenbild zum Atompilz von Hiroshima und ein Bild der Hoffnung. Er steigert sich in die Idee hinein, dass ein Bild der Erde aus dem All das Bewusstsein der Menschen verändern kann und beginnt eine Kampagne, mit der er die NASA auffordert, ein solches endlich zu veröffentlichen. Schon am nächsten Morgen beginnt er Buttons und Poster zu drucken, und macht sich auf, um sie in Berkeley auf dem Campus der Universität für 25 Cent das Stück zu verkaufen.

 1968 veröffentlicht Brand den „Whole Earth Catalogue“ eine Bibel der Counterculture. Die erste Auflage verkaufte er mit seiner Frau Lois für fünf Dollar in ihrer Wohnung in Menlo Park. Der Katalog verband praktische Anleitungen für Aussteiger mit revolutionären Ideen. IN seinem eigenwilligen Produktkatalog wollte Brand „Werkzeuge“ präsentieren, die das Bewusstsein verändern und das Leben verbessern sollten. Die Leser:innen konnten Kommentare einsenden, die in der nächsten Ausgabe erschienen – ein analoger Vorläufer späterer Online-Communities.

Die letzte Ausgabe erschien 1972 mit dem Slogan „Stay hungry, stay foolish“ – Worte, die Steve Jobs später in einer berühmten Rede in Stanford aufgriff. Jobs sah im Katalog einen Google in Papierform: „It was sort of like Google in paperback form, 35 years before Google came along: It was idealistic and overflowing with neat tools and great notions.” Viele Ideen der linken Gegenkultur der 60er Jahre inspirierten die Tech-Pioniere des Silicon-Valley: das Aussteigertum, ihre Gesellschaftskritik und das Hacker-Ethos des „Do it yourself“. Doch sie verwandelten den revolutionären Geist der Gegenkultur in einen neoliberalen Tech-Kapitalismus.

Die Ideen der Kybernetik sind eine wichtige gemeinsame Inspirationsquelle für die Counterculture und die Cyberculture. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie als Wissenschaft von der Steuerung und Regelung in Systemen entstanden. Die amerikanische Gegenkultur griff ihre Ideen begeistert auf. Dass die Kybernetik ein holistisches Welt- und Gesellschaftsbild vertrat und Theoreme der Ökologie dazu nutze, um wechselseitige Einflüsse und Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren zu denken, passte gut zu den Gesellschaftsutopien der Zeit.

Die Tech-Eliten des Silicon Valley begeisterte dagegen vor allem das technologische Weltbild der Kybernetik, das Unterschiede und Trennungen zwischen Mensch, Technik und Natur durch Begrifflichkeiten aus der Schaltungstechnik und der formalen Logik aufzulösen versuchte. Der aktuelle KI-Hype zeigt, wie stark dieses technologische Denken nachwirkt und das Verständnis von „Denken“ dem Modell des Technischen angepasst hat.

Die „Blue Marble“ steht für einen historischen Moment und zeigt die Verknüpfungen zwischen der linken Gegenkultur der 60er und 70er Jahre in den USA und der beginnenden „Kalifornischen Ideologie“ des Silicon Valley. Es ist ein Foto, das unser Denken veränderte und uns zeigt, wie nah Utopie und Dystopie beieinander liegen können.

Zum Weiterlesen:

Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, University of Chicago Press, 2006, 327 Seiten.

Thomas Rid, Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik, Propyläen Verlag, 2016, 432 Seiten.

Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, C.H. Beck, 2011, 782 Seiten.

 

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