Eigentlich wollte ich ein bisschen durch den tropischen Regenwald reisen mit dieser Humboldt-Biographie – eine imaginäre Exit-Strategie gegen den grauen Winter. Ein guter Plan, habe ich mir gedacht, als ich das Buch für nur 5 Euro auf dem Flohmarkt fand.
Das steht drin
Alexander von Humboldt kennt man als großen Naturforscher, aber mit diesem Buch lernt man ihn auch als Menschen kennen, als einen rastlosen, vielseitig interessierten und ungeheuer schnellen Geist. Allein schon das ist inspirierend genug. Gerade in unserer durchspezialisierten Wissenschaft von heute tut es gut, seinen im besten Sinne „interdisziplinären“ Forschungsgeist zu spüren. Humboldt ist eben nicht nur rationalistischer Aufklärer, sondern auch ein Romantiker. Etwas wissen zu wollen ist für ihn eine Emotion.
Besonders aufschlussreich waren für mich neben den Kapiteln über die berühmte Forschungsreise nach Südamerika die Kapitel über Humboldts Zeit in Weimar und seine Freundschaft mit Goethe, die sein Naturbild grundlegend geprägt haben. Bemerkenswert finde ich auch, wie Wulf den politischen Gehalt von Humboldts berühmter Südamerika-Reise in einem Kapitel über seine Beziehung zu Simón Bolívar und die Bedeutung seiner Schriften für die Unabhängigkeit Lateinamerikas schildert.
Das macht dieses Buch besonders
Humboldts abenteuerliches Leben und seine Forschungsreisen erzählt Andrea Wulf so lebendig, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Die deutsch-amerikanische Wissenschaftshistorikerin recherchiert nicht nur akribisch, sondern schreibt mit einer Klarheit und Leichtigkeit, die fesselt. Besonders positiv ist, dass sie weder in den Biografie-Kitsch verfällt noch Humboldts Denken zwanghaft in unsere Zeit überträgt.
Dieses Buch liest sich flüssig, unterhaltsam und ich habe nebenbei eine Menge über Humboldt und die Naturwissenschaft seiner Epoche gelernt. Natürlich hätte man sein Leben auch anders erzählen können – kritischer, experimenteller, mit mehr Deutung und Analyse einzelner Denkfiguren. Aber was will man mehr als eine kluge, gut dokumentierte Biographie, die nicht langweilt?
Das bleibt im Kopf
Nicht nur aus imaginärer Reiselust habe ich dieses Buch gekauft, sondern auch, weil mich Alexander von Humboldts neuer Blick auf die Natur interessiert hat. Und genau darauf legt dieses Buch auch den Fokus auf Humboldts wegweisenden Forschungen zu Ökologie und Klimawandel. Andrea Wulf zeigt, wie Humboldt mit seinem berühmten „Naturgemälde der Anden“ einen völlig neuen Blick auf die Natur entwickelte und als Vordenker der heutigen Ökologie gelten kann. In der tollen philosophischen Reihe „Was bedeutet das alles“ bei Reclam ist gerade ein neuer Band erschienen, der Texte aus Humboldts Werk in den Kontext von Ökologie und Nachhaltigkeit rückt.
Was mir besonders im Gedächtnis bleibt, sind die von Wulf sorgfältig ausgewählten Zitate, die Humboldt als brillanten Denker und begnadeten Erzähler zeigen. Er kommt in diesem Buch viel selbst zu Wort, was auch charakteristisch für ihn ist. Denn sein Bruder Wilhelm beklagte sich nämlich über den „Redefluss“ seines Bruders, der „unerbittlich dahinrauscht“ (Wulf, S. 183). Diese Kraft seines Denkens und Sprechens, die auch in dieser Biographie spürbar ist, macht Lust, noch mehr von Humboldt selbst zu lesen.
Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen von Hainer Kober, 2016, C. Bertelsmann, 560 Seiten.
Alexander von Humboldt, Auf dem Weg zum ökologischen Denken. Drei Texte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ottmar Ette, 2023, Reclam, 126 Seiten.
Zum Weiterlesen:
Rezension und Beitrag bei druckfrisch
Rezension von Michael Lange im DLF
Website von Andrea Wulf