Der Blick vom Gipfel des Chimborazo verändert Alexander von Humboldts Blick auf die Natur und macht ihn zum Vordenker der Ökologie. Sein „Naturgemälde der Anden“ ist ein wichtiges Bild in der Geschichte der Nachhaltigkeit.
Die Besteigung des Chimborazo
Am 23. Juni 1802 beginnt Alexander von Humboldt zusammen mit dem Botaniker Aimé Bonpland den Aufstieg zum Chimborazo. Es soll ein Schlüsselerlebnis seiner fünfjährigen Expedition durch Südamerika (1799-1804) werden, für die er fast sein gesamtes Erbe investiert hat. Die beiden Forschungsreisenden wollen Vegetation und Klima des 6262 Meter hohen Vulkans erforschen, der zu den eindrucksvollsten Gipfeln der Anden gehört.
Der Aufstieg stellt die Expeditionsteilnehmer auf eine harte Probe. Die einheimischen Träger weigern sich bei 4750 Metern weiterzugehen, sodass Humboldt und Bonpland gemeinsam mit zwei weiteren Helfern allein weiterklettern. Mit halb erfrorenen Händen bauen sie immer wieder die schweren Messgeräte aus Holz und Messing auf, um Luftdruck, Temperatur und die Zusammensetzung der Luft zu messen.
Zu dieser Zeit verfügen sie natürlich nicht über professionelle Kletterausrüstung, mit der später erfahrene Alpinisten die Gipfel der Welt besteigen. Ihre Jacken und Hemden sind aus Wolle und Stoff, ihre Schuhe aus Leder. Die Höhenkrankheit lässt das Zahnfleisch bluten, und Schwindel macht jeden Schritt noch gefährlicher. Bei 5917 Metern unter dem Gipfel zwingt sie schließlich eine Gletscherspalte zur Umkehr, aber sie haben für die damalige Zeit einen Höhenrekord aufgestellt.
So gefährlich der Aufstieg auch war, eröffnet er für Humboldt einen neuen Blick auf die Natur. In seinem späteren Leben sprach er immer wieder davon, dass man die Natur „von einem höhern Standpunkte“ (1) aus betrachten müsse, um sie zu verstehen. Humboldts neues Bild der Natur entsteht also nicht aus wissenschaftlichen Überlegungen allein, sondern aus einer konkreten Erfahrung.
Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo * Gemälde von Friedrich Georg Weitsch (1806) (Bildnachweis)
Das Naturgemälde – Ein neues Bild der Natur
Humboldt hat ein neues Bild der Natur im Kopf, das er auf einer der nächsten Stationen seiner Reise 1803 im Hafen von Guayaquil in Form einer ersten Skizze zu einem Bild werden lässt. Später wird daraus das sogenannte „Naturgemälde der Anden“, ein wunderschöner, kolorierter Kupferstich, der ab 1807 seinem Buch Ideen zu einer Geographie der Pflanzen (1805) beiliegt. Das ganze Buch dreht sich um dieses Bild. Die Erläuterungen darin umgeben es wie eine riesige Bildunterschrift, wie die Humboldt-Biografin Andrea Wulf schreibt.
Das Naturgemälde zeigt den Chimborazo im Querschnitt mit seinen verschiedenen Vegetationszonen, vom Tropenwald-Tal bis zum eisigen Gipfelkrater. Feine Linien verbinden die Bergansicht mit Messdaten zu Gravitation, Temperatur und Luftzusammensetzung. Andrea Wulf beschreibt die Besteigung des Chimborazo als Schlüsselerlebnis, das Humboldts neue Sicht auf die Natur entscheidend prägt:
„Auf dem Chimborazo nahm Humboldt alles in sich auf, was vor ihm lag, während seine Gedanken zurückwanderten zu all den Pflanzen, Gesteinsformationen und Messungen, die er auf den Hängen der Alpen, der Pyrenäen und auf Teneriffa gesehen und vorgenommen hatte. Alles, was er jemals beobachtet hatte, rückte jetzt an seinen Platz. Humboldt erkannte, dass die Natur ein Netz des Lebens und eine globale Kraft ist.“ (2)
Humboldt erscheint für Wulf als Vordenker der Ökologie und Nachhaltigkeit, weil er die Natur als ein System wechselseitiger Abhängigkeiten und Einflüsse versteht. Das Naturgemälde ist für ihn mehr als eine Darstellung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern ein Denkbild, das er selbst als „Mikrokosmos auf dem Blatte“ (3) bezeichnet.
Tableau physique des Andes et pays voisins, Peter H. Raven Library/Missouri Botanical Garden (CC BY-NC-SA 4.0), Biodiversity Heritage Library
„Naturgemälde“ – schon dieser etwas eigenartige Titel verrät Humboldts Anspruch, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verbinden. Seinem Naturverständnis nach, das er auch unter dem Einfluss von Goethe und der Weimarer Klassik entwickelt, will er Natur nicht nur empirisch durch Daten und Zahlen beschreiben, sondern sie auch ästhetisch erfahren.
Dieser Anspruch zeigt sich auch im Naturgemälde selbst, das als kolorierter Kupferstich über eine ganz eigene ästhetische Anziehungskraft verfügt und wie eine Mischung aus Gemälde und Tabelle wirkt. Zur damaligen Zeit war diese Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis revolutionär, und das Naturgemälde war sicher ein erster Schritt in Richtung moderner Infografiken und der anschaulichen Aufbereitung von Wissen.
Als Kommunikator seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse war Humboldt seiner Zeit voraus. Er ließ seine Publikationen, wie mit dem Kupferstich des Naturgemäldes, aufwendig illustrieren. „Die Leute wollen sehen“ (4), dessen war sich Humboldt im 19. Jahrhundert sehr bewusst, einer Zeit, in der viele neue Bild- und Reproduktionstechniken wie die Chromolithografie oder die Fotografie erfunden wurden. Seine Ansichten der Natur von 1808 wurden wegen der anschaulichen Reisebeschreibungen zu einem großen Publikationserfolg.
Humboldt als Vordenker der Ökologie
Humboldts Blick ist ganzheitlich und darin ökologisch. Statt Pflanzen nach Taxonomien zu sortieren und wie beispielsweise Carl von Linné nach Fortpflanzungsorganen zu katalogisieren, interessiert sich Humboldt für das Zusammenwirken von Vegetation, Geologie und Klima. Auch wenn man heute in seiner Darstellung der Vegetationszonen des Chimborazo Fehler entdeckt hat, bleibt doch die innovative Kraft eben dieser neuen Perspektive.
Nicht nur das Schubladendenken der Botanik durchbricht Humboldt. Er zeigt auch, dass sich Natur und Kultur nicht voneinander trennen lassen. Auch Pflanzen werden politisch – Tee, Tabak, Zuckerrohr oder Baumwolle stehen auch in Verbindung mit Kolonialismus, Versklavung und Ausbeutung.
In seinem Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien von 1808 kritisierte er die spanische Kolonialherrschaft, die Natur und Kultur gleichermaßen zerstört. Die Spanier zwangen die einheimischen Volksgruppen in Südamerika dazu, möglichst lukrative „Cash Crops“ anzupflanzen und so die Kulturlandschaft zerstörten.
Schon bei ihrer Ankunft in Südamerika hatten Humboldt und Bonpland einen Sklavenmarkt gesehen und waren abgestoßen von der Unmenschlichkeit und Grausamkeit der Sklaverei. Zeit seines Lebens sollte Humboldt ein scharfer Kritiker der Sklaverei bleiben.
In ihrer Biografie stellt Andrea Wulf auch ausführlich die politischen Wirkungen von Humboldts Schriften dar, die in Südamerika ein neues Bewusstsein für die Schönheit des Kontinents geweckt haben. Der Revolutionär Simón Bolívar, den Humboldt persönlich gut kannte, ließ sich von ihm inspirieren und bestieg später selbst den Chimborazo – heute das Nationalsymbol Ecuadors.
Humboldt ist oft zur Projektionsfläche gemacht worden und jede Zeit hat ihr eigenes Humboldt-Bild. Im Kaiserreich wurde er als nationaler Eroberer und Entdecker gefeiert. In der DDR sah man in ihm den antikolonialen Befreier.
Heute erscheint Humboldt vielfach als Vordenker der Ökologie und der Klimawissenschaft, als der er beispielsweise durch seine Erfindung der Isotherme auch gelten kann. Sein Blick auf die Natur als ökologisches Ganzes und die Verbindungen zwischen Ökologie und Politik in seiner Kritik des Kolonialismus machen ihn für unsere heutige Zeit relevant.
Noch dazu beherrschte Humboldt schon damals, was angesichts von Klimakrise, Naturzerstörung und Ausbeutung heute immer wichtiger wird, nämlich die verständliche und engagierte Kommunikation der eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Anmerkungen:
(1) Humboldt zitiert nach Wulf, S. 121.
(2) Wulf, S. 121.
(3) Humboldt zitiert nach Wulf, S. 122.
(4) Humboldt zitiert nach Wulf, S. 168.